CSM Alumni, MBA Sustainability Management

Gastbeitrag: Nachhaltig entscheiden – Warum Organisationen neue Wege der Entscheidungsfindung brauchen

Die Herausforderungen unserer Zeit – von der Klimakrise über die soziale Ungleichheit bis zur digitalen Transformation – erfordern ein grundlegendes Umdenken in Organisationen. Doch wie können Unternehmen, Verwaltungen oder NGOs Entscheidungen treffen, die ökologisch verantwortlich, sozial gerecht und ökonomisch tragfähig sind? Die klassische Hierarchie und das Mehrheitsprinzip stoßen hier an ihre Grenzen. Es braucht neue, partizipative und agile Verfahren der Entscheidungsfindung, um die Potenziale der Vielheit zu heben und die Akzeptanz für nachhaltige Lösungen zu stärken.

Ein Gastbeitrag von Tim Weinert aus dem MBA-Netzwerk

Warum bisherige Entscheidungsverfahren nicht zukunftsfähig sind

In vielen Organisationen dominieren nach wie vor autokratische Entscheidungsprozesse und das Mehrheitsprinzip. Das führt häufig zu Silodenken, Grabenkämpfen und Entscheidungen, die ohne Einbeziehung der Betroffenen und des relevanten Wissens in der Organisation getroffen werden. Gerade wenn es um komplexe Zukunftsfragen geht, für die es keine einfachen Lösungen gibt, erweisen sich solche Top-down-Prozesse als ineffektiv und innovationshemmend. Sie erzeugen Widerstände, Demotivation und eine Kultur des Wegduckens statt Verantwortungsübernahme.

Die Alleinherrschaft zentraler Steuerung hat ausgedient

Oestereich & Schröder (2017) betonen, dass höhere Komplexität in Organisationen nur gemeistert werden kann, wenn Entscheidungen und Verantwortung dezentralisiert werden und Teams mehr Autonomie erhalten. Dies steigere Innovation und Reaktionsfähigkeit. In ihrem Ansatz des „kollegial geführten Unternehmens“ plädieren sie für eine systematische Verlagerung von Macht und Entscheidungsbefugnissen auf die ausführende Ebene. Statt Zentralisierung ist Dezentralisierung und Selbstorganisation gefragt – unterfüttert durch gemeinsam getragene Werte und Spielregeln. So kann sich eine „Schwarmintelligenz“ entwickeln, von der alle profitieren. (Quelle: Oestereich & Schröder, S. 4ff)

Soziokratischer Konsent und systemisches Konsensieren als alternative Entscheidungsverfahren

Wie aber können Entscheidungen konkret anders getroffen werden? Die Soziokratie mit dem Konsententscheid und das systemische Konsensieren bieten hier wegweisende Alternativen zum Mehrheitsprinzip. Beim soziokratischen Konsent gilt eine Entscheidung als getroffen, wenn es keine schwerwiegenden Einwände im Hinblick auf das gemeinsame Ziel gibt. Beim systemischen Konsensieren wird die Entscheidung gefällt, die insgesamt auf den geringsten Widerstand stößt. Beide Verfahren haben gemeinsam, dass sie viele Perspektiven berücksichtigen, Minderheiten schützen und gleichzeitig handlungsfähig machen. Sie erfordern einen ehrlichen Dialog, gegenseitiges Vertrauen und die Bereitschaft, sich auf manchmal zeitintensive Aushandlungsprozesse einzulassen.

Wichtig dabei: Beide Verfahren sind keine Spielarten der Basisdemokratie, bei der alle alles entscheiden. Sie ermöglichen effektive und zügige Entscheidungen auch in größeren Gruppen, ohne in endlose Diskussionen und Abstimmungen zu verfallen. Der Bioland-Verband, Deutschlands größter ökologischer Anbauverband, arbeitet seit einigen Jahren mit den soziokratischen Prinzipien. Bioland schreibt dazu auf seiner Homepage:

„Es ist eine Hauptaufgabe aller Menschen im Bioland, dafür zu sorgen, dass eine Entfremdung vom kollektiven Interesse, unserem Leitbild, unserem Grundauftrag nicht stattfindet. Mit dem Werkzeug der Soziokratie schaffen wir für jeden Einzelnen auch in einem wachsenden Verband die Möglichkeit der Mitverantwortung und Gestaltungsverantwortung und stärken die Partizipation.“

Quelle: Bioland-Website

Wichtig ist zu erwähnen, dass die beiden vorgestellten Entscheidungsverfahren vor allem für strukturelle und strategische Entscheidungen geeignet sind. Für operative Entscheidungen bietet der konsultative Fallentscheid eine zeiteffiziente Alternative. Bei dieser Entscheidungsvariante wird eine verantwortlichen Person ausgewählt und durch  sinnvolle Definition ein großer Teil von Entscheidungsverantwortung an diese delegiert. Konsultativ heißt die Methode deshalb, da die Person mit der entsprechenden Rolle verpflichtet wird die Meinung von betroffenen Personen oder Expert:innen zu hören, bevor sie/er eine eigenmächtige Entscheidung fällen darf (Quelle: oose.de).

Holistische Organisationsentwicklung statt bloßer Methodenwechsel 

So verlockend alternative Entscheidungsverfahren sind: Sie funktionieren nicht im luftleeren Raum. Damit sie ihr transformatives Potenzial entfalten können, braucht es vielmehr eine ganzheitliche Veränderung von Strukturen und Haltungen in Organisationen. Neben neuen Meeting- und Entscheidungsformaten gilt es auch, Hierarchien auf Kompetenzbasis zu stellen, Verantwortung zu delegieren und eine Kultur des Vertrauens und der Kooperation zu etablieren. Nur im Zusammenspiel all dieser Faktoren kann sich eine neue Qualität der Zusammenarbeit entwickeln, die den Herausforderungen der BANI-Welt gewachsen ist (vgl. Grabmeier 2020). Das Akronym BANI besteht aus den vier Wörtern Brittle (brüchig), anxious (ängstlich), non-linear (nicht linear), incomprehensible (unfassbar). Und beschreibt damit die komplexe und krisengeschüttelte Welt.

Gesellschaftliche Wirkung: Kompetenzen für Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) werden gestärkt

Ein erfreulicher Nebeneffekt partizipativer Entscheidungsverfahren ist, dass sie zentrale Kompetenzen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung wie Selbstreflexion, Kooperation, Partizipation und vorausschauendes Denken fördern. Diese Kompetenzen haben gesellschaftliche Relevanz, um ganzheitliche Nachhaltigkeitstransformation möglich zu machen. In der aktuellen Arbeitswelt sind diese jedoch entweder unterrepräsentiert oder werden durch konventionelle Kommunikations- und Entscheidungsformate sogar reduziert. Die Hypothese ist, dass die Stärkung dieser Kompetenzen in der Arbeitsweit zu einem Spillover Effekt in Gesellschaft führt.

Konkrete Kompetenzen, die gestärkt werden:

1. Die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und zur Empathie wird gestärkt, wenn viele Beteiligte ihre Sichtweise einbringen und sich in die Lage anderer versetzen.

2. Kritisches Denken, Argumentationsfähigkeit und der Mut, auch unbequeme Fragen zu stellen, werden gefördert, wenn es darum geht, tragfähige Lösungen im Dialog zu finden.   

3. Die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme wächst, wenn Menschen in Verantwortung gehen und Entscheidungen mitgestalten, deren Folgen sie dann auch mittragen.

4. Nachhaltigkeitsentscheidungen sind üblicherweise dilemmabehaftet. Speziell der Konsent und das Verfahren des systemischen Konsensieren können viel robustere „sowohl-als-auch-Lösungen“ hervorbringen.

So leistet eine neue Entscheidungskultur einen doppelten Beitrag zur großen Transformation: Nach innen stärkt sie die Zukunftsfähigkeit von Organisationen und die Potenzialentfaltung ihrer Mitglieder. Nach außen tragen die so gebildeten und „empowerten“ Menschen diesen Wandel in Familie, Freundeskreis und Gesellschaft.

Mit neuen Entscheidungsverfahren die Transformation zur Nachhaltigkeit beschleunigen

Die vorgestellten alternativen Ansätze der Entscheidungsfindung sind kein Selbstzweck. Sie dienen dazu, die Transformation von Organisationen zum Positiven zu gestalten und ihre Beiträge für eine nachhaltige Entwicklung zu stärken. Wenn viele Mitglieder einer Organisation gehört werden und Verantwortung übernehmen, entsteht Ownership für getroffene Entschlüsse. Es wächst die intrinsische Motivation, gemeinsam Neues auszuprobieren und auch mal Risiken einzugehen. So werden aus Bedenkenträgern Innovationstreiber, aus Dienst nach Vorschrift echtes Engagement, aus Silodenken ganzheitliche Sichtweisen. Damit gewinnen Organisationen jene Agilität, Resilienz und Innovationskraft, die sie brauchen, um die großen Zukunftsaufgaben anzupacken und ihren Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.

Experimente in eurer Organisationen

Um herauszufinden, ob diese veränderten Praktiken zur eigenen Organisation passen, empfehlen sich folgende Experimente:

  • Im Kreis sprechen: Bei einer Diskussion werden alle Menschen im Raum nacheinander gehört. Ping-Pong Diskussionen zwischen extrovertierten, lauten Menschen werden dadurch deutlich reduziert
  • Info von Meinung trennen: Für eine Entscheidung gibt es eine erste Runde, bei der Menschen Infofragen an die Person, die die Entscheidung einbringt stellen können. Diese werden zuerst beantwortet. Danach folgte die Aussprache als Diskussion und die Entscheidung selbst.
  • Systemisches Konsensieren / Konsent ausprobieren: Eine Person, eine Gruppe befasst sich mit alternativen Entscheidungsverfahren und bringt diese zum Testen ein
  • Delegationsstufen nutzen: mit den Delegationsstufen lässt sich Partizipation feingranular unterscheiden und Klarheit für Führungskräfte und Mitarbeitende erzeugen

Fazit: Entscheidend für die Transformation sind Partizipation und Augenhöhe 

Grundlegend ist die Entscheidung von Chef:innen und Unternehmensinhaber:innen sich diesen neuen Haltungen und Methoden zu öffnen und damit den Raum bereitzustellen, um Partizipation und Verantwortungsübernahme zu fördern und dadurch Meinungs- und Interessenvielfalt zu ermöglichen. Es gibt unterschiedliche Ansätze für eine partizipative Entscheidungsfindung – im Grunde zielen alle darauf ab eine neue Haltung und Kultur der Zusammenarbeit in Organisationen zu etablieren. Wer etwas bewegen will, muss den Mut haben, Macht zu teilen und auf die Weisheit der Vielen zu setzen. Soziokratie, systemisches Konsensieren und kollegiale Führung zeigen, wie das gelingen kann. In ihrem Kern geht es immer um Partizipation, Dialog und die Wertschätzung von Pluralität – um ein neues Miteinander auf Augenhöhe. Nur so kann Veränderung nachhaltig gelingen. Packen wir’s an!

Tim Weinert ist Co-Gründer und Geschäftsführer von nowwork – Werkstatt für kooperative Organisationen. Als integraler Organisationsentwickler und Nachhaltigkeitsberater arbeitet er daran KMU ganzheitlich zukunftsfähig zu machen. Tim Weinert studierte im 10. Jahrgang des berufsbegleitenden MBA Sustainability Management.

Links (extern) zum Weiterlesen:
Oesterreich & Schröder – Agile Organisationsentwicklung
RENN-Netzwerk – Einführung soziokratischer Konsent (Seite 27f)
Systemisches Konsensieren und soziokratischer Konsent – Christian Rüther in der Zeitschrift für Organisationsentwicklung
Delegationsstufen
Eidenschink Klaus – Anders entscheiden
Übersicht BNE-Kompetenzen

Titelbild: Leuphana/Jannis Muser

Als Gastautor*innen teilen Studierende und Alumni des berufsbegleitenden MBA Sustainability Management an der Leuphana Universität Lüneburg ihr Wissen, ihre Praxiserfahrungen und ihre Lösungsansätze zu Herausforderungen des Nachhaltigkeitsmanagements.
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