CSM Alumni, MBA Sustainability Management

Jetzt nachhaltig sanieren! – MBA-Alumnus Dr. Bernd Steinmüller im Interview

Passivhaus Plus in Hamm, saniert von MBA-Alumni Bernd Steinmüller

Keine Branche ist so energie- und rohstoffhungrig wie die Bauindustrie: Gebäude sind ursächlich für 40% der CO2-Emissionen und rund 50% aller Stoffströme. Das heißt aber auch: Die Hebelwirkung von mehr Nachhaltigkeit im Bausektor ist riesig. Eine wichtige Rolle spielen dabei Bestandsgebäude. MBA-Alumnus Dr. Bernd Steinmüller, Abschlussjahr 2008, wurde in diesem Jahr mit dem Passive House Award ausgezeichnet – für eine gelungene Sanierung eines 50er-Jahre-Wohnhauses, die Klima, Umwelt und Geldbeutel schont. Was den Passivhausstandard kennzeichnet, welches Potenzial der „Baustandard“ hat und warum der Gesetzgeber endlich mutiger sein muss, erklärt er im Interview.

Herzlichen Glückwunsch zum Passive House Award 2021! Für Laien: Was versteht man technisch unter einem Passivhaus und was kennzeichnet den Passiv-Plus-Standard?

Passivhäuser gehen zukunftweisend weit über derzeitige gesetzliche bzw. sogenannte Effizienz-Haus-Standards hinaus. Kernidee: Die beste kWh ist diejenige, die man nicht braucht.

Technisch sind es Gebäude, deren Energiebedarf insbesondere durch „passive“ Maßnahmen massiv minimiert ist, so dass man auf ein „aktives“ Heiz- (oder ggf. Kühl-)System weitgehend verzichten bzw. dieses vereinfachen kann und ein neues Nachhaltigkeits-Optimum erhält. Zu den passiven Maßnahmen gehören besonders gute Wärmedämmung, Wärmebrückenvermeidung, Fenster, Luftdichtheit sowie eine hocheffiziente Belüftung mit Wärmerückgewinnung. Dies führt dazu, dass man 100m2 Wohnfläche am kältesten Tag allein mit 10 herkömmlichen Glühbirnen oder 10 Besuchern warmhalten könnte! Der Heizwärmebedarf sinkt unter 15 kWh/m2a. Damit liegt er einen Faktor 10 unter dem Bedarf durchschnittlicher Bestandsgebäude sowie einen Faktor 3 bis 4 unter dem gesetzlichen Neubaustandard.

Die beste kWh ist diejenige, die man nicht braucht.

Der Heizwärmebedarf erreicht damit die Größenordnung des vormals untergeordneten Energiebedarfs für Warmwasser und Haushalts-/Bürostrom. Der Passivhaus-Standard schließt daher auch Letztere in die weitere Bilanzierung ein. Weiter berücksichtigt er die Verluste künftiger Erzeugungsketten samt notwendiger saisonaler Speicher, ermittelt als neue Kenngröße den zu erwartenden Primär-Energiebedarf Regenerativ (am Beginn der Ketten) und definiert hierfür eine zukunftsfähige Obergrenze von 60 – 75 kWh/m2a. In der noch anspruchsvolleren „Plus-Version“ muss ein Passivhaus sodann auf seine Grundfläche bezogen zusätzlich einen vergleichbaren Betrag an erneuerbarer Energie produzieren und noch etwas strengere Primärenergiebedarfskriterien erfüllen. Genaueres ist der Literatur zu entnehmen (Passipedia-Wissensdatenbank).

Bernd Steinmüller bei der Verleihung des Passive House Awards 2021, © Passivhaus Institut

Sie zeigen am gebauten Beispiel, wie das Passivhaus-Plus-Konzept im Gebäudebestand umgesetzt werden kann. Was zeichnet Ihr Projekt aus und wie groß ist der Nutzen für Klima, Umwelt und Geldbeutel?

Das Projekt gehört zu den weltweit ersten zertifizierten Sanierungen auf Passivhaus-Plus-Standard und wurde von einer internationalen Jury als besonders vorbildlich und nachhaltig ausgezeichnet.

Auch betriebswirtschaftlich zeigt die Sanierung eine positive Bilanz: Sie ist für Eigentümer wie Mieter ökonomisch vorteilhaft.

1951 auf den Nachkriegstrümmern eines mittelalterlichen Stadtwalls errichtet, wird der Heizwärmebedarf um einen Faktor 14 reduziert und der geringe Restbedarf mit Wärmepumpe, Photovoltaik und Energieträger Strom (mit zunehmenden Windanteilen) klimagerecht gedeckt. Die alte Gebäudesubstanz samt Wärme-Verteilsystem wird weitgehend weiter genutzt, Ressourcen werden stark geschont, auch die darin enthaltene „graue Energie“ geht nicht verloren. Kostbare Erneuerbare werden minimal beansprucht, künftige Netz-, Speicher- und Umweltkosten auf allen Versorgungsebenen stark reduziert, die „Dunkelflauten-Resistenz“ stark erhöht. Klima, Umwelt, Volkswirtschaft gewinnen.

Alte Ostansicht und Wärmebrücken des von Bernd Steinmueller sanierten Passivhauses
vorher: Ostansicht des Sanierungsobjekts und Wärmebrücken
nachher: Ostansicht ohne Wärmebrücken

Auch betriebswirtschaftlich zeigt die Sanierung eine positive Bilanz: Sie ist für Eigentümer wie Mieter ökonomisch vorteilhaft. Die Sanierungskosten sind zwar beträchtlich, werden aber durch Gebäudewertsteigerung und Förderung kompensiert. Die Miete beträgt rund 8€/m2 und ist für ein so saniertes Haus in bester Lage mit Garten, Blick in den Grüngürtel, drei Balkonen und einer Terrasse sehr niedrig – insbesondere, wenn man bedenkt, dass für Heizung, Warmwasser, Lüftung, Allgemeinstrom nur noch 18 Cent Nebenkosten pro m2 hinzukommen… wobei letztere künftig eher sinken als steigen. Die ehemals hohe “zweite Miete“ ist vernachlässigbar geworden. Das Feedback der Bewohner ist sehr positiv: Die thermische Behaglichkeit ist hoch, Energieverbrauch und Betriebskosten sind äußerst niedrig (Details zum ausgezeichneten Passivhaus in Hamm).

Was waren die größten Herausforderungen bei dem Projekt und wie haben Sie diese überwunden?

Im Bestand sind anders als im Neubau viele Parameter – wie u.a. Gebäudeorientierung, Einbausituation, Gebäude- und Bauteilstruktur, Befensterung, Wärmebrücken, Wege für Luft- und Wärmeverteilung – nur sehr eingeschränkt änderbar, so dass es besonders herausfordernd ist, noch „nachträglich“ hohe Standards zu erreichen. Was geholfen hat: Sorgfältige Gebäudeanalyse einschließlich detaillierter Gebäude- und Wärmebrückenberechnungen, gründliche Planung mit iterativer Optimierung, ein offener „kreativer“ Blick für kosteneffiziente nachhaltige Lösungen sowie Erfahrung und eine gehörige Portion Beharrungsvermögen während der Umsetzung. Letztere war unter dem Strich die größte Herausforderung, da es im Handwerk Fachkräftemangel, Erfahrungs- und Ausbildungslücken gibt, die es schnellstmöglich zu schließen gilt.

Wie schätzen Sie das Potenzial dieser Bauweise auf dem Weg zu einer nachhaltigen Zukunft ein? Warum hat sich die Passivbauweise noch nicht durchgesetzt?

Beim Passivhaus geht es weniger um eine „Bauweise“ als um einen internationalen „Baustandard“, der sich weltweit bewährt hat und inzwischen als ausdifferenzierte, zukunftweisende „Baustandard-Familie“ öffentlich zur Verfügung steht. Konzipiert für den Neubau – aber auch anwendbar im Bestand – gehören hierzu die oben beschriebenen Standards Passivhaus und Passivhaus-Plus, die durch den noch weiterführenden Standard Passivhaus-Premium abgerundet werden. Für Altbauten wurden analog leicht abgeschwächte Versionen mit den Namen EnerPHIT/Plus/Premium eingeführt.

Die Verbreitung in fast alle Klimaregionen der Welt ist im Gange.

Potenzial und Basis für einen weltweiten nachhaltigen Einsatz sind beachtlich. Für die Realisierung der Standards steht eine Fülle bewährter Bautechniken, Bauteile, Geräte sowie ein umfangreiches weltweites Wissensnetzwerk (cf. internationale Passive House Association ipHA) samt einer Datenbank tausender realisierter Projekte sowie Weiterbildungsangeboten zur Verfügung. Die Verbreitung in fast alle Klimaregionen der Welt ist im Gange; in China steht seit 2019 die größte Passivhaussiedlung der Welt! Trotzdem dauert die Umsetzung von Innovationen im Baubereich viel zu lange: Für viele Stakeholder ist es nicht leicht, Systeme mit langen Wirkdauern richtig zu beurteilen, was in der Vergangenheit dazu geführt hat, dass kurzfristiges Denken, Lobbyismus für das Althergebrachte und Skepsis gegenüber Neuem zu oft die Oberhand behielten.

Warum ist die Baubranche ein wichtiger Baustein für die nachhaltige Entwicklung und wie können Anreize geschaffen werden, um die Baubranche nachhaltiger zu gestalten?

Gebäude sind ursächlich für 40%(!) der Energie-/Klimabelastung und 50%(!) aller Stoffströme. Zudem bilden sie zu 90% unseren Aufenthalts- und Lebensort. Die Baubranche ist also ein überaus zentraler, meist völlig unterschätzter Baustein für die nachhaltige Entwicklung.

Für bloße „Anreize“ ist es zu spät – da die Klima-Uhr unerbittlich tickt und selbst die teilweise sehr üppigen finanziellen Fördermittel der KfW bisher kaum die notwendige Bewegung brachten.

Obwohl fast eine „Binsenweisheit“, ist diese Tatsache in unserer Gesellschaft weder Endkunden noch maßgeblichen Nachhaltigkeitsexperten, Politikern oder Stakeholdern ausreichend bekannt. Auch in den Klima-Wahlkampfdebatten wurde sie erschreckend wenig thematisiert, so kann keine Bewusstseinsbildung stattfinden. Für bloße „Anreize“ ist es zu spät – da die Klima-Uhr unerbittlich tickt und selbst die teilweise sehr üppigen finanziellen Fördermittel der KfW bisher kaum die notwendige Bewegung brachten. Es muss daher endlich der Mut aufgebracht werden, zuallererst im Neubau das gesetzlich zu verankern, was ohnehin seit Langem wirtschaftlich möglich und ökologisch geboten ist: Passivhaus- bzw. Passivhaus-Plus-Niveau (s.u.a.: mehr als 10 Jahre alte EU-Beschlüsse)! Auf dieser Basis sollten sodann entsprechende Nachrüstpflichten im Bestand in Richtung EnerPHIT bzw. EnerPHIT-Plus erlassen und durch neu ausgerichtete Förder- und Steueranreize – insbesondere bei Eigentümer- sowie energie- und flächensparendem Wohnungswechsel – flankiert werden.

Blicken wir nach vorn: Wie werden Sie am Ende des Jahres 2022 die Welt nachhaltiger gemacht haben? Welche Projekte wollen Sie im Jahr 2022 angehen?

Ich persönlich werde die Welt am Ende des Jahres 2022 nicht wesentlich nachhaltiger gemacht haben, hoffe aber, dass all das, was in den letzten Jahrzehnten investiert wurde, sich endlich in Deutschland wie weltweit in entschiedenem, nachhaltigem Handeln niederschlägt. Dabei treibe ich selbst weiterhin anspruchsvolle Pilotprojekte voran, berate zivilgesellschaftliche Initiativen, um mit engagierten Partnern auf Politik und Entscheidungsträger einzuwirken und kommunal, regional sowie (inter-)national zu entsprechenden Weichenstellungen anzuregen. Immerhin wird im aktuellen Koalitionsvertrag für 2025 eine Verschärfung der Neubau-Standards avisiert, die das Niveau Richtung Passivhaus anhebt, aber dessen Potenzial immer noch nicht konsequent zukunftsfähig ausschöpft.

Es ist 10 nach 12! Können wir die Uhr noch zurückdrehen? Wir müssen endlich handeln. Jetzt!

Vielen Dank für das Interview!

Das Interview führte Anna Michalski vom Centre for Sustainability Management (CSM), Leuphana Universität Lüneburg.

Bilder: © Bernd Steinmüller, Preisverleihung – © Passivhaus Institut

Weiterlesen:
Pressemitteilung zum Passiv House Award 2021
Dr. Bernd Steinmüller Sustainability Management Consulting BSMC
Bernd Steinmüller: „Reducing Energy by a Factor of 10“ – MBA-Publikation zu Energieeffizienz & Nachhaltigkeit im Gebäudesektor  
Bernd Steinmüller: Grundlagen zur Geschichte des energieeffizienten Bauens (Passipedia, Auszüge aus Kapitel drei der MBA-Arbeit mit langer Literaturliste))
Artikel zum prämierten Gebäude: „Fit für die Zukunft“, Gebäude Energieberater (vollständige Ansicht mit Probeabo)